Das Märchen von der
traurigen Traurigkeit
Von
Inge Wuthe
Es
war eine kleine alte Frau, die bei der zusammengekauerten Gestalt am
Straßenrand stehen blieb. Das heißt, die Gestalt war eher körperlos, erinnerte
an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen.
"Wer
bist du?" fragte die kleine Frau neugierig und bückte sich ein wenig
hinunter. Zwei lichtlose Augen blickten müde auf. "Ich ... ich bin die
Traurigkeit", flüsterte eine Stimme so leise, dass die kleine Frau Mühe
hatte, sie zu verstehen.
"Ach,
die Traurigkeit", rief sie erfreut aus, fast als würde sie eine alte
Bekannte begrüßen.
"Kennst
du mich denn", fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich
kenne ich dich", antwortete die alte Frau, "immer wieder einmal hast
du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja,
aber ..." argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du nicht vor
mir, hast du denn keine Angst?"
"Oh,
warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selber nur zu
gut, dass du jeden Flüchtigen einholst und dich so nicht vertreiben lässt.
Aber, was ich dich fragen will, du siehst - verzeih diese absurde Feststellung
- du siehst so traurig aus?"
"Ich
... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die
kleine alte Frau setzte sich jetzt auch an den Straßenrand. "So, traurig
bist du", wiederholte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf.
"Magst du mir erzählen, warum du so bekümmert bist?"
Die
Traurigkeit seufzte tief auf. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören
wollen? Wie oft hatte sie vergebens versucht und ...
"Ach,
weißt du", begann sie zögernd und tief verwundert, "es ist so, dass
mich offensichtlich niemand mag. Es ist meine Bestimmung, unter die Menschen zu
gehen und eine Zeitlang bei ihnen zu verweilen. Bei dem einen mehr, bei dem anderen
weniger. Aber fast alle reagieren so, als wäre ich die Pest. Sie haben so viele
Mechanismen für sich entwickelt, meine Anwesenheit zu leugnen."
"Da
hast du sicher Recht", warf die alte Frau ein. "Aber erzähle mir ein
wenig davon."
Die
Traurigkeit fuhr fort: "Sie haben Sätze erfunden, an deren Schutzschild
ich abprallen soll.
Sie
sagen "Papperlapapp - das Leben ist heiter", und ihr falsches Lachen
macht ihnen Magengeschwüre und Atemnot.
Sie
sagen "Gelobt sei, was hart macht", und dann haben sie Herzschmerzen.
Sie
sagen "Man muss sich nur zusammenreißen" und spüren das Reißen in den
Schultern und im Rücken.
Sie
sagen "Weinen ist nur für Schwächlinge", und die aufgestauten Tränen
sprengen fast ihre Köpfe.
Oder
aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht spüren
müssen."
"Oh
ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir oft in
meinem Leben begegnet. Aber eigentlich willst du ihnen ja mit deiner
Anwesenheit helfen, nicht wahr?"
Die
Traurigkeit kroch noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Ja, das will
ich", sagte sie schlicht, "aber helfen kann ich nur, wenn die
Menschen mich zulassen. Weißt du, indem ich versuche, ihnen ein Stück Raum zu
schaffen zwischen sich und der Welt, eine Spanne Zeit, um sich selbst zu
begegnen, will ich ihnen ein Nest bauen, in das sie sich fallen lassen können,
um ihre Wunden zu pflegen.
Wer
traurig ist, ist ganz dünnhäutig und damit nahe bei sich.
Diese
Begegnung kann sehr schmerzvoll sein, weil manches Leid durch die Erinnerung
wieder aufbricht wie eine schlecht verheilte Wunde. Aber nur, wer den Schmerz
zulässt, wer erlebtes Leid betrauern kann, wer das Kind in sich aufspürt und
all die verschluckten Tränen leerweinen lässt, wer sich Mitleid für die inneren
Verletzungen zugesteht, der, verstehst du, nur der hat die Chance, dass seine
Wunden wirklich heilen.
Stattdessen
schminken sie sich ein grelles Lachen über die groben Narben. Oder verhärten
sich mit einem Panzer aus Bitterkeit."
Jetzt
schwieg die Traurigkeit, und ihr Weinen war tief und verzweifelt.
Die
kleine alte Frau nahm die zusammengekauerte Gestalt tröstend in den Arm.
"Wie weich und sanft sie sich anfühlt", dachte sie und streichelte
zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte
sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Ich
weiß, dass dich viele Menschen ablehnen und verleugnen. Aber ich weiß auch,
dass schon einige bereit sind für dich. Und glaube mir, es werden immer mehr,
die begreifen, dass du ihnen Befreiung ermöglichst aus ihren inneren
Gefängnissen. Von nun an werde ich dich begleiten, damit die Mutlosigkeit keine
Macht gewinnt."
Die
Traurigkeit hatte aufgehört zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete
verwundert ihre Gefährtin.
"Aber
jetzt sage mir, wer bist du eigentlich?"
"Ich",
antwortete die kleine alte Frau und lächelte still. "Ich bin die
Hoffnung!"